Für die meisten Praktiker der sogenannten elektronischen Musik oder Lautsprecher-Musik (L-Musik) gibt es wahrscheinlich kein Problem der Interpretation und dies aus diversen Gründen, darunter der ungedachte (und darum wichtigste), dass die Interpretation von der Industrie vorgegeben ist. Daraus folgt, rein materiell, dass, aus der Sicht der Industrie, Lautsprecher gleich Lautprecher ist und Schmalzbohrer gleich Schmalzbohrer oder anders gesagt: L-Musik klingt aus jedem Lautsprecher so wie sie ist. Und da die Industrie davon ausgeht, dass L-Musik nicht notierbar ist, gibt es kein Interpretationsproblem. (Das war schon so zu Schoenbergs Zeiten, der Akkorde geschrieben hatte, die keine waren.)
Ist jedoch eine L-Musik vorrangig Musik, so kann man sie notieren und so stellt sich auch und trotz allen Einwänden, die Frage der Adäquation des musikalischen Gedankens mit seiner Niederschrift, also mit seiner Fixierung in einer Folge von Algorithmen oder anderen Mitteln, die eine Reproduktion im klassischen Sinne zulassen.
Ist die gängige Musikkritik stolz darauf, dumm im Dunkeln zu tappen? vielleicht unfähig, aber sicher nicht gewillt ein halbes Jahrhundert Verspätung aufzuholen. Zugegeben: sie hat es nicht leicht, denn in den Hochschulen oder anderen pädagogischen Orten wird nur das offizielle Industrie-Credo nachgeplappert: Alles ist so, weil es nicht anders sein kann. Die Überlebenden der analogen Synsesäusler-Technik stehen vor dem Haufen der totgeweihten Oszillatoren.
Es ist schon so, dass die Beschleunigung der Obsoleszens die Kritiker überlastet: die analoge Musiktechnik hat sie nur halbwegs kapiert, doch schon muss sie auf eine digitale umsatteln. Und die Anfänge der Klangsynthese, wie sie vor Music V schon möglich war, und der Klangorganisation, wie sie sich Varèse vorgestellt hatte, hat sie konsequent verschlafen, denn die Industrie hat ja gesagt, dass dieses Grundwissen unnötiger Ballast sei, der dem gehobenen Akademiker nicht gut steht.
Rundfunkanstalten sollten die Stätten sein, wo L-Musik gepflegt wird. Real werden Musiken, die nicht von der Industrieästhetik unterstützt werden, auf miserablen Brüllwürfeln (treffend) abgehört. So sind wir bei Adorno zurück.
Die Interpretation, die »hilft« ist immer zugleich verdeckend (S. 104). In die L-Musik transponiert, hat dieser Satz nicht den selben Sinn wie in der Instrumentalmusik - aber ist trotzdem gültig. Oft bietet sich so dem Adorno-Leser die Möglichkeit den gewöhnlichen Horizont der L-Musik zu überschreiten.
Der von Suhrkamp publizierte Text besteht aus Bruchstücken und Notizen: es fällt dem Leser schwer ein Thema zu verfolgen, z.B. Gestus. Es würde sogar mir leicht fallen einen kompletten Index anzufertigen, hätte ich eine elektronische Version des Textes. Aber in dieser Ausgabe ist ein konzeptgefädeltes Lesen eine unnötige,vom Verleger veranstaltete, Qual.
Die 184 Seiten des Textes bestehen hauptsächlich aus Formeln - sehr sauber mit Latex dargestellt. Mit dem Latex zu zuschreibenden Nachteil, dass halbleere Seiten enstehen weil Latex doch mehr an typographischer Kompetenz erfordert als das darin liegende Basiswissen. Die Seitenzahl könnte eine ausgewogene Satztechnik auf ca. 120 verringern - aber das ist nicht schlimm denn das Manko wird ja dem Leser angerechnet. Es zahlt sich aus.
Die gleichschwebend temperierte Tonskala wird Andreas Werkmeister zugeschrieben. Es ist immer gefährlich abzuschreiben, denn den Vorschlag einer gleichschwebend temperierten Tonskala hatte Simon Stevin in seinem Werk Vande Spiegeling der Singkonst schon ca. 50 Jahre vor Werkmeisters Geburt gemacht.
... bis bald.
Ernst Mach hat 1866 die Einleitung in die Helmholtz'sche Musiktheorie. Populär für Musiker dargestellt publiziert. Was eigentlich für den Musiker wichtig findet sich in dieser Einleitung (24 Eur bei Sändig Reprint Verlag); franz. Übersetzung in Helmholtz - du son à la musique von P. Bailhache, A. Soulez und C. Vautrin (28 Eur bei Vrin) mit Texten von Helmholtz und Dahlhaus.
Oldenbourg Verlag, ca. 29 Eur
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